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Wir brauchen ein neues Hören

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Popmusik ist postkoloniale Musik. Sie ist immer mit den politischen Weltkarten und kulturellen Identitäten verklammert. Der Musikwissenschaftler Johannes Ismaiel-Wendt plädiert daher für ein anderes, neues Hören. Ein Gespräch.

Der Orient aus westlicher Sicht. Sehnsucht oder Wahrheit? Gemälde eines Harems des ungarischen Malers Alexander Svoboda (1826-1896)

Der Orient aus westlicher Sicht. Sehnsucht oder Wahrheit? Gemälde eines Harems des ungarischen Malers Alexander Svoboda (1826-1896)

Johannes Ismaiel-Wendt ist Professor für Musikwissenschaften und forscht vor allem über den Zusammenhang von Popmusik und Postkolonialismus. Sein Buch «Tracks ‘n’ Trecks – populäre Musik und postkoloniale Analyse» beschäftigt sich mit den imaginären und realen Landkarten in aktueller Popmusik. Ihm zufolge enthält Musik immer ein bestimmtes Wissen, sowohl über Migrationsbewegungen als auch Vermischungen.

Philipp Rhensius: Herr Ismaiel-Wendt, sie forschen gewissermaßen da weiter, wo Edward Said, einer der Begründer der postkolonialen Theorie, aufgehört hat: an der Schnittstelle von Postkolonialismus und Popkultur. Said prägte vor allem den Begriff des Orientalismus, also den westlichen Blick auf den Nahen Osten und die arabische Welt als «Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient». Seine Thesen hat er auch mit Beispielen aus der Popkultur belegt. Ob in Texten von Gustave Flaubert oder in der Musik von Mozart bis The Clash, Said entlarvte die klischeehaften Repräsentationen des Orients als Sehnsüchte und Phantasien von Westeuropäern.

Johannes Ismaiel-Wendt: In gewisser Weise ist oder war Saids 1978 erschienenes Buch «Orientalism» so richtig Pop: »Swoooosh: Orientalism!« Said bezog den Begriff Orientalismus auf die Vorstellungen des Westens von den «Orientalen«, also den romantisierten, exotisierten Bildern, die im Westen von den »Anderen« verbreitet werden. «Der Europäer», dessen Position in diesen Vorstellungen übergeordnet ist, erfindet eine Gegenkultur, die grob, gefährlich und unzivilisiert ist. Die endlosen Repräsentationen des Orients, die wir in Texten von Gustave Flaubert, Karl May, Thomas Mann oder in der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart und Guiseppe Verdi genauso finden wie bei The Clash, Shakira, Sting oder im Kinderlied «C A F F E E, trink nicht zu viel Caffee», haben weniger mit dem Leben im Nahen beziehungsweise Mittleren Osten oder Nordafrika zu tun als mit den Phantasien und Sehnsüchten der Westler, die diese Bilder erfinden.

Said prägte auch den Begriff der »imaginären Geographien», um die Prozesse des europäischen Kolonialismus zu kennzeichen. Wie real sind diese imaginierten Räume in der Popmusik?

Es sind zwar nur phantasmatische Räume, was aber nicht heißt, dass sie nicht permanent wirkmächtig sind. Ich möchte ein harmloses Beispiel geben, das die mehr oder weniger latente Reproduktion der Klischees verdeutlicht: In «The Voice of Germany» gab es mal einen Battle zwischen einem in Marokko geborenen Mann und einem, der sich selbst einmal als «asian looking dude» bezeichnet hat. Xavier Naidoo, dem Coach dieser beiden, ist nichts Besseres eingefallen, als sie Stings Orientphantasie »Desert Rose« singen zu lassen. Doch damit nicht genug. Als der »Marokkaner» auf die Bühne kommt, wird »natürlich» Cheb Khaled eingespielt, und als der »Asiat» die Bühne betritt, hören wir «Gangnam Style». Das sind reduktionistische, essentialistische Inszenierungen, mit denen etwa der »Asiat», der Vinh Kuat heißt, doch eigentlich gar nichts zu tun hat. Er könnte doch genauso gut als jemand wahrgenommen werden, der sonst funkige Musik mit neuester Sampletechnologie macht.

Prof. Johannes Ismaiel-Wendt. Foto: A. Danusiri.

Prof. Johannes Ismaiel-Wendt. Foto: A. Danusiri.

Worin besteht Ihrer Meinung nach der Zusammenhang zwischen Postkolonialismus und Popmusik?

Postkolonialismus beschreibt, wie Herrschaftsdiskurse durch «Rasse»- und «Kultur»-Diskurse legitimiert werden, und bezieht neben dem spezifischen Erleben der Welt nach dem Kolonialismus auch Widerstandsformen und Neoko-lonialismus mit ein. Eine grundlegende These meiner Forschung ist: Populäre Musik ist postkoloniale Musik, denn die Stränge Kolonialismus, Dekolonisationsbewegungen und Neokolonialismus sind stets hörbar. Ich höre sie vor allem aus der immer wieder auftauchenden Verklammerung zwischen Sound und Rhythmus mit politischen Weltkarten und der Repräsentation kultureller Identitäten. Was soll Afro- oder Latin-Jazz eigentlich genau heißen? Wie klingt K-Pop und welche Vorstellungen von Asiaten verbinden wir damit?

Trotz der Globalisierung wird Musik immer noch stark mit ihren vermeintlichen Herkunftsorten in Verbindung gebracht. Geht es primär um Marketing, wenn etwa die synkopierten Beats von UK Funky auf die Tradition afrikanischer Polyrhythmik zurückgeführt werden?

Das ist übrigens ausgemachter Unsinn. Wieso sollte man nach 2-Step, Dancehall und Raggamuffin wegen eines von der geraden Zählzeit verschobenen Beats irgendwie eine Verbindung nach Afrika suchen?

Ihrer Ansicht nach entspringt die Suche nach der Herkunft also dem eurozentristischen Bewertungssystem?

Ja, das ist Essentialismus, rassistisches Denken. Die besungenen Bongos in einem UK-Funky-Track wie «Bongo Jam» von Crazy Cousinz verweisen nicht auf ein traditionelles Instrumentarium aus Afrika, sondern eher auf sekundäre Geschlechtsmerkmale. Wenn ich eine Tradition in UK Funky hören kann, ist es die Tradition des Versioning: die Idee, dass Ursprünge und Originale relativ wenig interessieren. Wir haben es hier also eher mit einer bodenlosen Tradition aus dem Black Atlantic zu tun.

Eine Theorie von Paul Gilroy, der zufolge afroamerikanische Kultur aus den Netzwerken der afrikanischen Diaspora, die sich im Zuge europäischer Kolonialpolitik in den USA, der Karibik und England gebildet haben, entstanden ist.

Deshalb finde ich grundsätzlich das «UK» in UK Funky oder UK Grime etwas seltsam. Es sei denn, wir lesen es als postkoloniale Aneignungsstrategie und ein Belächeln von Weißseins-Inszenierungen wie Britpop.

In Ihrem Buch «Tracks ’n’ Treks« bezeichnen Sie Popmusik als welthaltig. Was meinen Sie damit?

Popmusik ist »welthaltig», aber auch «weltgewaltig». Der Audioforscher Rolf Grossmann würde vielleicht sagen, Musik ist Information im erweiterten Sinne. In jeder Musik ist ein bestimmtes Wissen sedimentiert. Ich gehe davon aus, dass in Musik zum Beispiel kulturelle Landkarten fixiert werden, aber auch dynamische Kulturkonzeptionen eingeschrieben sind. In Popmusik ist auch stets das Wissen um die «Treks», die strapaziösen Reisen des Postkolonialismus wie Sklaverei, Diaspora und Migration, gespeichert. «Weltgewaltig» meint wiederum, dass Musik Bewegungen und «Tracks» zu gestalten vermag. Wir hören und spielen darin die Welt, die wir noch gar nicht kennen.

Der US-amerikanische Beatmusiker Ras G. Foto: Art Jefferson. Via Colorising.com

Der US-amerikanische Beatmusiker Ras G. Foto: Art Jefferson. Via Colorising.com

Der kalifornische Beatmusiker Ras G bezeichnet sich als Afrofuturist, also als Vertreter einer musikalischen vermittelten Sozialkritik am Rassismus gegen Afroamerikaner. Er kritisiert die «ghettozentrische» Repräsentation schwarzer Musik: «Das Bild von schwarzer Kultur in aktueller nordamerikanischer Musik ist völlig verdreht. Als wären wir vollkommen primitiv und würden alle Trap machen, Südstaaten-Slang reden und unendlich viel Geld durch den Stripclub werfen. (…) Das ist nicht meine Realität.» Wie kommt es dazu, dass solche Bilder immer noch die Medien dominieren?

Ras G knüpft hier an eine buchstäblich bodenlose schwarze Musiktradition an, für die sicherlich so jemand wie der Sun Ra der sechziger und siebziger Jahre mit «Astro Black» und «Space is the Place» eine zentrale Figur ist. Das sieht man auch in Ras Gs Plattencover-Ästhetik. Wenn immer noch die Slang-Ghettogeschichten von «primitiven Schwarzen» erzählt werden, die animalisch-triebgesteuert im Stripclub mit ihren Weibchen umgehen, dann weicht so jemand wie Ras G lieber in eine Utopie aus.

Der Afrofuturismus unternimmt den Versuch, über Science-Fiction alternative kulturelle Erzählungen zu schaffen, in denen das Weltall zu einem utopischen Ort der Gleichberechtigung wird.

… und die weggehen von einer Rückbesinnung auf Afrika, weg von einer Opferrolle der Sklaverei, weg von primitiven Buschmann-Inszenierungen und Gangster-Image, hin zu einer selbstbewussten Ausweichnarration, in einen anderen Weltraum, in dem Ras sich technologisch und evolutionär überlegen gegenüber den Menschen und dem eurozentristischen Humanismus präsentiert. Die Musik von Ras G klingt nicht irgendwie nach naturalistischer Ziegenfell-Trommel, sondern nach synthetischen Sounds, nach einer Bit-Drum-Machine und vielen Samples. Ras G klingt alles andere als irdisch, seine Snare-Sounds hallen nach und wabern in extraterrestrischen Atmosphären mit schlechtem Empfang.

Letztlich finde ich es aber schon wieder recht abgeschmackt, was Ras G macht. Es ist, was Sounds und Rhythmen betrifft, bei weitem nicht so visionär, wie Sun Ra es vor 40 Jahren gewesen ist. Ras G scheint mir etwas verspätet auf einen Zug aufzuspringen, von dem er weiß, dass eine Menge Jungs heute wieder darauf abfahren. Das ist etwas, was mich an der Afrofuturismus-Inszenierung oft gestört hat: Wenn schon die menschliche Kategorie in Frage gestellt wird, also «what is human?», warum wird nicht auch die Geschlechterkategorisierung in Frage gestellt?

Oder auch die Herkunftskategorie. Said war langjähriges Mitglied des palästinensischen Exilparlaments und wandte sich nach dem Oslo-Abkommen von Yassir Arafat ab, das er als «palästinensisches Versailles» bezeichnete. Ist Said für Palästinenser heute noch von Bedeutung?

Ich bin nicht gut genug über die Rolle informiert, die Said heute für Palästinenser einnimmt. Ich weiß auch nicht, mit wie viel inhaltlicher Tiefe etwa sein Buch »Question of Palestine» derzeit rezipiert wird. Im Zusammenhang mit unserm Symposium wurde aber deutlich, dass Saids Dekolonisationsdenken durchaus Bedeutung hat für Menschen, die sich als Araber identifizieren. Es gibt dieses anonyme Künstlerkollektiv Ahl al-Kahf in Tunis, das Banksy, Foucault und Said als Inspiration für seine Graffiti anführt – manchmal sieht man an einer Häuserwand ein Stencil-Bild von Said in pop-ikonographischer Art wie von Che Guevara.

Graffiti des Künstlerkollektivs Ahl al-Kahf Tunesien

Graffiti des Künstlerkollektivs Ahl al-Kahf in Tunesien

Sie haben den Begriff Sonic Delinking geprägt. Was ist darunter zu verstehen?

Den Begriff «Delinking» übernehme ich von Walter Mignolo, dem Coloniality-Theoretiker. Er bezeichnet damit, vereinfacht gesagt, die Notwendigkeit der Dekolonisierung des Denkens. Nach der Kartierung der Welt und der Namensbestimmung, exzesshaft betrieben durch den europäischen Kolonialismus, geht es eben um ein anderes Wissen, ein anderes Weltenverstehen. Mignolo spricht auch von Pluriversalismus statt von eurozentrischem Universalismus. Mit Sonic Delinking meine ich, dass wir geradezu systematisch daran arbeiten müssen, uns von der Kartierung und Kategorisierung der Musik zu befreien. Es bedarf einer intensiven Hör- und Dekompositionsarbeit, sich von der musikalischen Weltkarte zu trennen. Ich nenne das auch «Un-gehör-sam» gegenüber den üblichen mit Musik verbundenen kulturellen Repräsentationen. Populäre Musik kennt überaus produktive Strategien für solche Deterritorialisierungen: Cuts, Breaks, Pitching, Bending, Remixing. Der Naturalisierung des Kulturellen wird seit Jahrzehnten etwa die in der Electronic Dance Music zentrale Synthetisierung entgegengesetzt. So etwas in die Musik hinein zu hören meint Sonic De-linking.

Es könnte also neues Wissen entstehen, wenn wir Musikhören als kreativen Akt betreiben. Gibt es ein richtiges Hören?

Nein. Aber ich möchte ein Plädoyer für das Hören halten. Ich komme nochmal auf das zurück, worüber wir zuvor gesprochen haben: die Welthaltigkeit der Musik. Die multiplen Einflüsse der Welt auf die populäre Musik (und umgekehrt) führen dazu, dass die Musik, also die Sounds, Beats und sonstigen Muster, etwas »wissen». Sie verfügen über eigene Wissensformen, für die wir vielleicht noch keine Sprache haben und möglicherweise auch nie haben werden. Ich denke zum Beispiel an ein anderes Orientierungs- oder Hybrid-Erleben, das ich hatte, als ich die ersten Bass-Wobbles in Dubstep hörte, bevor diese schon wieder zu zeichenhaft aufgeladen waren. Ich denke an Multitrack- und Post-Blues-Erleben beim Hören von Jimi Hendrix. Aber jetzt versuche ich schon wieder Sprache zu finden.

Ist denn ein Hören jenseits von Repräsentation oder besser, jenseits von Sprache möglich?

Es gibt diese sehr interessante philosophisch-soziologische Arbeit von Siegfried Saerberg: «Geradeaus ist einfach immer geradeaus. Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raum-orientierung». Saerberg plädiert darin für ein wesentlich auf Hören und Tasten basiertes Wissen. Diese blinde Raumorientierung ist kein defizitäres Konzept, sondern ein anderes. Und wenn ich mir die ständig wiederholten, klischierten (Sound-)Bilder von Afrika, dem Orient, Südamerika oder der Karibik so anschaue, könnten wir andere Wissenskonzepte sehr gut gebrauchen.

Dieses Interview ist erstmals in der Wochenzeitung Jungle World erschienen.


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